Mir wurde erzählt, dass unser Großvater eine Stilfserin heiratete und zusammen mit ihr nach Österreich zog. Dort baute er eine eigene Tischlerei auf. Seine Frau, die Stilfserin, bekam jedoch starkes Heimweh, und so löste unser Großvater seine Tischlerei in Österreich auf. Dafür errichtete er eine neue Tischlerei in Südtirol, gleich hinter der Grenze am Brenner. Das Heimweh seiner Frau jedoch wurde nicht kleiner, und so gab unser Großvater auch diese Tischlerei auf und zog nach Prad am Stilfserjoch. Auch hier wurde unsere Großmutter nicht ruhig, das Heimweh nach Stilfs bestand nach wie vor, obschon sie ihrem Heimatort bedeutend näher gekommen war. Relativ alt schon musste unser Großvater also wieder alles aufgeben, um den Wünschen seiner Gemahlin neuerlich nachzukommen. Und so zog er nach Stilfser Brücke und erbaute dort im hohen Alter abermals eine Sägerei und Tischlerei.
Seine Frau jedoch, wird erzählt, stand jeden Tag auf der Brücke, schaute nach Stilfs, in ihr Heimatdorf hinauf, und weinte. Der Großvater war jetzt jedoch zu alt und es fehlte ihm an Kraft und Wille, um auch in Stilfser Brücke alles aufzugeben und nach Stilfs zu ziehen, und so starb meine Großmutter mit ihrem Heimweh in Stilfser Brücke, zwei Kilometer unterhalb von Stilfs.
Eines Tages kam mein Bruder Roman zu mir und sagte, er habe nun das idealste Haus für künstlerische Entwicklungen in Stilfs gefunden. Es sei ein freistehendes Haus im alten Stilfser Dorf, mit Brunnen und auf Fels gebaut, und es gäbe auch einen kleinen Platz vorm Haus, auf dem sich mehrere Menschen versammeln können. Der Innenraum im Haus soll kein architektonischer werden, sondern ein Kunstraum, eine lebende, organische Skulptur.
Mein Bruder Roman hat vier Kinder, 3 Söhne und als letztes ein Tochter. Sie heißt Margerita. Von den alten Stilfser Brücknern wird berichtet, dass sie meiner Großmutter aufs Haar gleiche. Ich selbst kannte meine Großeltern nicht.
Roman meinte, wir sollten jetzt diesem matriarchalen Heimweh nach Stilfs nachgeben und dort ein Haus nach künstlerischen Gesichtspunkten einrichten. Die Kunst wird als Seele verstanden, die
organisch und bei sanftem Nachgeben den eigenen Weg findet. Dabei wollte Roman die künstlerische Gestaltung realisieren, und ich sollte die Organisation und Verwaltung übernehmen, um das
Haus mit eigenen Aktionen und eingeladenen Künstlern zu beleben. Zudem sagte er: „Eines Tages wird jemand kommen und wird so vernarrt in dieses Haus sein, dass er es unter allen Umständen kaufen
will. Er wird viel Geld bezahlen und mit diesem Geld können wir dann etwas anderes aufbauen.
Das Pfeiferhaus beruht also auf diesem künstlerisch-matriarchalen Gedanken von Roman. Die Eingänge gehen über den „Mutterschoß“, durch felsige Höhlen, und der Zugang zu diesen Türen geschieht
durch ein Stahlrohr. Die Haustür hat die Farben weiß, rot, schwarz und wieder weiß. (Geburt, Sexualität, Tod, Leben). Innen wurden einige Betonmauern abgetragen, um den Felsen freizulegen, ein
leerer Felskörper sollte entstehen. Die Übernachtungsmöglichkeiten sollten Biwak-mäßig in die Felsen herausklappbar hineingehängt werden. Wasser sollte vom Brunnen kommen, nur ein Plumpsklo
sollte es geben und kein elektrisches Licht.
Schon bald geriet ich in einen finanziellen Engpass, da ich fast niemanden fand, der sich für diese Idee begeistern ließ, außer meinen Bruder, der mit missionarischem Eifer seinen Gedanken weiterverfolgte. Ich hingegen dachte an minimale Einkommensmöglichkeiten, um die Kosten zu decken und das Haus überhaupt in seiner Grundform entwickeln zu können, da wir zusammen gerade das Geld gehabt hatten, die Hausruine zu kaufen. Das war vor etwa 30 Jahren.
Ich versuchte, mit Leuten aus ganz Europa im Pfeiferhaus kulturell tätig zu werden und zusammenzuarbeiten. Der Druck nach minimalen Grundstrukturen wurde immer stärker. Der damalige Kulturassessor Bruno Hosp kam und schaute sich die Hausruine an. Er war von unserer Idee, Kultur in Stilfs zu machen, begeistert und so erhielten wir die erste, kleine Landessubvention. Damit konnte die notwendigsten Sachen, ein neues Dach, neue Fenster, Hausrissebehebungen und die Fundamentsicherung realisiert werden. Klo konnten wir jedoch noch keines bauen, es wurde weiterhin das Plumpsklo benutzt.
Die Idee, im Pfeiferhaus Kultur und Kunst zu machen, verfolge ich seither unentwegt und ich habe viel Kraft und ein Großteile meiner Ersparnisse in dieses Haus gesteckt. Roman gab mir viele künstlerischen Tipps und es gab, entsprechend dem organischen Grundgedanken, immer wieder kleinere und größere Veränderungen am und im Haus.
Eines Morgens, vor mehr als 25 Jahren, fuhr ich nach Stilfs, um beim Pfeiferhaus nach dem Rechten zu sehen. Dabei kam ich ins Gespräch mit einem Nachbarn in
Stilfs. Er fand die Künstler, die mitten in der Nacht in ihren Unterhosen oder Schlafanzügen ums Haus gingen, um über die Kellertür zum Klo und den Duschen zu gelangen, keinen so guten
Anblick fürs Dorf.
„Leg doch einen Durchgang durch den Fels, von der Küche aus 3 Meter in den Felsen hinein, schlag eine Kurve frei und fahr dann einen Stock tiefer in den Felsenkeller, damit man innen zu den Klos
und den Duschen kommt. Dann hast du von den Stilfsern Ruhe mit deinen Künstlern.“, sagte er freundlich aber bestimmt zu mir. „Warum nicht?“, erwiderte ich, „Stilfs war schließlich
früher ein Bergwerksdorf und im Pfeiferhaus wohnten Bergarbeiter. Aber wie soll ich dieses Projekt beginnen?“
„Du wirst keinen Architekten oder Statiker finden, der das für dich plant, und die Gemeinde brauchst du gar nicht erst fragen, die erlaubt dir das sowieso nicht. Aber ich weiß etwas für dich.“
fuhr er fort und zeigte auf ein großes Scheunentor: „Da in meinem Stadel habe ich einen Presslufthammer aus dem ersten Weltkrieg, den kannst du für deinen Tunnel verwenden, mir brauchst
du dafür nichts zu bezahlen.“ Ich willigte ohne zu zögern ein. Er war selbst überrascht von meiner prompten Antwort, lachte und zeigte mir die Maschine und wie sie funktioniert.
„Allerdings“,sagte er, „musst du die Erlaubnis von den Leuten einholen, die hier im „äußeren Winkel“ wohnen. Meine Erlaubnis hast du sofort. Vor 8 Uhr morgens darfst du nicht anfangen, und von 12
bis 3 Uhr Nachmittags haben wir Mittagsruhe, am Abend muss um 7 Uhr wieder Ruhe sein.“ An diese Zeiten hielt ich mich und kein Nachbar machte Probleme.
Der stählerne Hauptteil des Presslufthammers, den man fest platzierte – um ihn zu bewegen brauchte es vier starke Stilfser Männer – war 2 Meter hoch und 1,5 Meter breit. In ihm befand sich der
Motor, Kabel- und Lüftwerk und eine Art Propeller. Von diesem Hauptteil führte ein dicker Gummischlauch zum beweglichen Presslufthammer, der cirka 60 kg wog. Man musste ihn im richtigen Winkel
auf den Felsen ansetzen und mit aller Kraft die Vibration aushalten und warten, bis sich der Fels spaltet. Als Mitarbeiter hatte ich einen Stilfser Pensionisten, der mit seinem Traktor das
Material wegführte. Immer, wenn ich nach ein paar Stunden einige Felsbrocken abgespalten hatte, legte ich sie auf die Ladefläche und der Stilfser führte sie in einen von der Gemeinde bestimmten
Lagerplatz. Wir haben ungefähr 100 Traktorladungen Felsmaterial weggeführt.
Mein Ansehen bei den Stilfsern stieg von Woche zu Woche und von Monat zu Monat. Niemand beklagte sich über den ohrenbetäubenden Lärm, gegen den der Lärm modernerer Presslufthämmer nahezu leise war. Besonders ältere Stilfser kamen immer öfters, um die Fortschritte des Projekts zu begutachten. Aber auch die jungen Stilfser, die mir zur Beginn eher mit skeptischer Distanz begegneten, wurden freundlicher, und ich spürte, dass sie mir nun eine Art Achtung und Bewunderung entgegenbrachten.
In mir geschah etwas mir vorher Unbekanntes. Ich wurde von Woche zu Woche süchtiger nach diesem Felsenloch, und nützte die Zeit, die ich zur Verfügung hatte, voll aus. Die vorgeschriebenen Pausen
brauchte ich dringend für gutes Essen, trinken und schlafen. Andere Tätigkeiten in dieser Zeit waren undenkbar. Ich widmete mich bedingungslos dem Projekt, aber ich fühlte mich, auch sinnlich,
immer mehr mit diesem Felsloch verbunden und spürte das ganze Stilfser Dorf mit seinen Bewohnern in mir. Ich schlief im Pfeiferhaus und erlebte eine hundertprozentige Zugehörigkeit zum Dorf. Das
Denken der Stilfser mit der viertelstündlichen Kirchenglocke, die ihre Zeit skandierte, das alles war ich auch.
Der Stilfser Bürgermeister sagte zu mir einmal im Gasthaus: „Die Stilfser sind mit deinen Arbeiten sehr zufrieden, da du immer pünktlich bezahlst.“
Als das Felsenloch nach etwa einem halben Jahr fertig herausgehämmert war, kam der pensionierte Stilfser Maurermeister Hubert Wieser und sagte: „Das muss jetzt fachgerecht gesichert werden. So kannst du es auf keinen Fall belassen.“ Er nahm diese Arbeit selber in die Hand und sagte gleich, was es alles kosten würde und dafür brauche. „Den Traktor bringe ich zusätzlich mit“, sagte er. Wir holten viele Traktorladungen Steine, betonierten die Treppenstufen und Steinsäulen in den Fels und sicherten den Türbogen und die kleine Grotte. Die Eisenkonstruktion zur Belichtung des Felsschachts schweißte Meinrad Thöni, Insasse der Behindertenwerkstatt Prad.
Die Schleuder und Eisenhalterungen gegen die Hausrisse fertigte der Schlosser Gritsch Max & Co an. Der neue Dachstuhl wurde von der Zimmerei Thialer Karl angefertigt. Den neuen Bauernofen in der Stube errichtete die Firma Ofenbau aus Laatsch. Das überdurchschnittlich große Ofentürchen dazu machte der Kunstschlosser Ebensberger Karl Heinz. Holztreppen und Stiegengeländer im Haus stammen von der Zimmerei und Tischlerei Lechner. Die Dachrinnen und andere Eisenkonstruktionen am Dach machte der Spengler Zoderer. Neue Fenster fürs ganze Haus setzte die Tischlerei Gugsell ein.
Klos, Duschen, Kalt- und Warmwasser in der Küche installierte Kuntner Kassian. Die Hölzer für das neue Lärchenstübchen lieferte der Sagschneider Folie. Die Schlafterrassen zimmerte Roland Veith.
Ein Kamion kann das Pfeiferhaus nicht erreichen und so mussten Baumaterialien - und schutt immer auf kleinere Traktorlieferungen umgeladen werden. Diese Traktorfahrten machten Hofer Anton, Edmund Schöpf, Wallnöfer Gottfried und Kobler Gebhard.
Rungg Alois brachte mit seinem Lastwagenkran die Granitplatte vom Suldenbach nach Stilfs und lud sie auf einen Traktor um. Veith Gregor vermauerte die Risse und verputzte das Haus außen und
innen. Die Steineberatung kam von Peter Jochberger und Marseiler Peter. Moser Leonhard offerierte Schnupftabak gegen die verstopfte Nase bei den Zementarbeiten. Die Nachbarin Anna Trafoier
verwaltete den Hausschlüssel. Inzwischen übernimmt diese Aufgabe die Nachbarin Serafine. Der Nachbar Ratt Michael lieh uns oft kleinere Werkzeuge. Ludwig Schöpf verrichtete Meiselarbeiten mit
seinem modernen Presslufthammer in der Küche. Der Gasthof Helmut Hofer und Monika Schöpf schenkte mir einmal ein Gratisessen und erließ andere Male Rabatt. Die Gemeinde Stilfs offerierte dem
Pfeiferhaus einige Traktorladungen von richtigen Mauersteinen. David und Ulrich Moser, Söhne von Roman und Monika, halfen beim Wegführen von Bauschutt. Oswald und seine Frau Serafine, andere
Nachbarn, stellten mir ihren Presslufthammer aus dem ersten Weltkrieg unentgeltlich zur Verfügung. Ein weiterer Nachbar, Gerhard Ratt, erzählte uns historische Geschichten zum Pfeiferhaus. Paula
Angerer half bei den notariellen Abwicklungen. Vierer Karl, baute vier lange Leitern fürs Pfeiferhaus. Der Baumeister Albrecht Ebensberger berechnete unentgeltlich einen Kostenvoranschlag für die
gesamte Sanierung. Der Mann von Stillebacher Elisabeth lieh uns zeitweise unentgeltlich seinen Schleifstein zum Nachschleifen der Werkzeuge. Die Gärtnerei Schöpf sponserte den Birnenbaum.
Mein Vater Friedl und sein Gehilfe, der Tischler Thomas, unterstützten das Projekt mit vielen unentgeltlichen Tischlerarbeiten. Meine Mutter Maria kochte unentwegt gratis.
Die Stilfser Kinder waren immer dabei und mischen mit ihrer Phantasie und Kreativität überall mit.
Engelbert Donner, Down- Künstler und Protagonist für Beziehungen, hat mir zwischen 1977 und 2000 selbst gemachte Holzskulpturen geschenkt. Diese sind inzwischen in die Holzstrukturen des Pfeiferhauses eingearbeitet.
Beim Eröffnungsfest am 24.2.1993 mit dem Titel „53 Jahre verdrängte Kunst des Künstlers Franz Pichler aus Meran“ weihte der damalige Stilfser Pfarrer Oswald Kuenzer das Pfeiferhaus ein. Der Stilfser Bürgermeister Cavalliere Josef Hofer richtete die Grußworte an die Feiernden. Er war der Bürgermeister mit der bisher längsten Amtszeit in Stilfs. Landesrat für Kultur Dr. Bruno Hosp war mit seiner Frau Inga Hosp anwesend und hielt eine Ansprache. Die Sopranistin aus dem Valtellina Silvia Oreggioni sang zur Vernissage Marienlieder. Der Fotograph Tumler Klaus dokumentierte das Ereignis auf Foto und Video.
Kurz, was zwischen Kunst, Kultur und Presse in Südtirol Rang und Namen hatte, war bei dieser Eröffnungsfeier anwesend. Innerhalb weniger Stunden wäre das ausgestellte Lebenswerk „53 Jahre verdrängte Kunst“ von Pichler Franz ausverkauft gewesen, hätte er sich nicht geweigert, irgendetwas zu verkaufen.