Viele sein
Wie er jetzt einer ist, ein solcher ist er gewesen

Guido Moser


Die einzige Wirklichkeit, die ich überhaupt kennen kann,
sind die Welt und das Universum so,
wie ich sie wahrnehme und in diesem Augenblick erlebe.
Die einzige Wirklichkeit, die Sie überhaupt kennen können,
sind die Welt und das Universum so, wie Sie sie im Augenblick erleben.
Und die einzige Gewissheit ist die,
dass diese wahrgenommenen Wirklichkeiten verschieden sind.
Es gibt ebenso viele „wirkliche Welten“ wie es Menschen gibt.

Carl R. Rogers

Wenn ich im Sommer meine Lieblingsbeschäftigung betreibe und durch das Ortler Hochgebirge wandere, begegne ich manchmal einigen Wegweisern zu vielen Wanderwegen, die in fast alle Richtungen zeigen. Sie haben gemeinsam, dass mir alle Wanderungen gut gefallen, verschieden ist nur der Stundenaufwand, und manchmal braucht es andere Ausrüstung. Allerdings kann ich, wenn ich mich dann für einen Weg entschieden habe, nicht mehr gleichzeitig die anderen Wege gehen, die grenzenlose Freiheit wird eingeschränkt.

 

So ähnlich ist es mir vor vielen Jahren ergangen, als ich angefangen habe, mich für Erlebnis- und ressourcen-orientierte Therapie-Ansätze zu interessieren, zuerst aufgrund meines Sportstudiums für die verschiedenen Körpertherapie-Ansätze, dann lernte ich bei Anna Triebel in Berlin Feldenkrais und später Wilhelm Reich kennen, bei dem der Körper mit seinen vielen Wirkfaktoren, Charakterstrukturen und sexuellen Energien-Entladungen zum Mittelpunkt wurde.

 

Schließlich entdeckte ich das IPS (Institut für personzentrierte Studien in Wien), wo ich mich fast 10 Jahre mit der personzentrierten Arbeit zu Beratung, Therapie und Couching nach Carl R. Rogers beschäftigte. Aufgrund einer Anregung von Peter Schmid, den Begründer des IPS, entdeckte ich Eugene T. Gendlin, und entschied mich im DAF (Deutsches Ausbildungsinstitut für Focusing und Focusing-Therapie) eine Focusing-Ausbildung zum Trainer und Therapeuten zu absolvieren.

 

Auf diese Weise kam nun zur personzentrierten Grundhaltung und Beziehungsarbeit eine Technik, die man lernen kann. Wenn alle Systeme, Methoden und Ansätze, die mich interessierten, mit dem unmittelbaren, inneren Körpererleben gekreuzt werden, kann ich sie alle in meine Arbeit integrieren. So habe ich zusätzlich zur Focusing Therapie mehrere Werkzeuge in meinem Arbeitsrucksack, um den Klienten in ihrer Vielschichtigkeit besser gerecht werden zu können.

 

Ich lernte, wie man gemeinsam mit dem Klienten prozess-orientierte Ziele nicht linear mit Erfolgszwang angehen muss, sondern wie man stattdessen Prozess-Arbeit als ein zirkuläres Gemeinsames praktizieren kann. Der Klient ist nicht mehr auf äußeres Expertentum angewiesen, denn sein Körper ist mit allem was er braucht ausgerüstet. Er trägt die innere Stärke, sein Medizinkästchen und den inneren Doktor immer mit sich und braucht nur zu lernen, mit seinem Körperwissen im Dialog zu bleiben.

 

 

Die Gewohnheit überwinden, in Problemen zu denken

 

Schon zu Beginn einer Therapie kann ich die Wunderfrage stellen: "Wie würde es sich anfühlen, wenn schon jetzt alles gelöst wäre?" So kann der Klient auf einer tieferen Ebene bereits bei der ersten Sitzung spüren, dass er selbst die Lösungen zu seinen Problemen in sich trägt. Die Aussage: „Alles ist schon da, du brauchst dich nur dafür bereithalten“ hörte ich früher von esoterischen Weisheitslehrern und manchmal von bestimmten Künstlern. Heute arbeiten fast alle Ressourcen-orientierten Therapieschulen mit diesem Wissen und berufen sich dabei zum Teil auf die jüngsten Ergebnisse der Neurowissenschaften.

 

Dem Wunschziel des Klienten gegenüber bleibe ich möglichst absichtslos, anerkennend und achtsam. Sollte das Ziel des Klienten dann nicht ganz oder gar nicht erreicht werden, kann er lernen, seinen Mut, einen neuen Weg ausprobiert zu haben, anzuerkennen und zu würdigen. So bleibt jeder Versuch und Irrtum ein Lernschritt. Der wunderbare Theatermann George Tabori sagte: „Einmal falsch ist falsch, zweimal falsch ist einmal besser falsch.“ So gesehen werden Fehler oder Rückschläge im Prozess des Klienten kompetente, achtsame Experimente, die wichtige Informationen über den klugen Organismus signalisieren und gesundheitsfördernde Lernchancen in sich bergen. In ihnen drücken sich oft Anliegen und Sehnsüchte sowie Lösungswege aus. Dementsprechend versuche ich, diesen Phänomenen auch den nötigen Raum zu geben.

 

Einmal fragte ich eine Klientin, wie viel Prozent von ihrem Wunschziel schon erreicht sei. Sie antwortete, das seien erst 20%. Ich bemerkte darauf, dass in Italien 20% schon die zweitstärkste politische Kraft sei. „Wie furchtbar wäre es, wenn einer von diesen drei Populisten ganze 100% hätte!“, lachte sie und war daraufhin mit ihren 20% plötzlich recht zufrieden.

 

Nach Gunther Schmidt, dem Begründer der systemischen Hypnotherapie, drückt ein Pr9oblem die im Moment gestalteten Wahrnehmungsprozesse und Konstruktionen von „Realität“ aus, die der Beobachter im Klienten trägt, der das „Problem“ erlebt. Dies geschieht bewusst sowie unbewusst, willkürlich sowie unwillkürlich.

 

Aus der Neurowissenschaft weiß man inzwischen, dass solche unwillkürlichen, automatisierten Muster meist auf unbewusster Ebene organisiert sind. Dort wirken sie immer schneller, stärker, effektiver als alles Bewusste und Willentliche. Sie gehen großteils vom entwicklungsgeschichtlich älteren Teil des Gehirns aus: vom Stamm- und Zwischenhirn. Das Zwischenhirn, auch lymbisches System genannt, könnte man als das emotionale diplomatische Wesen bezeichnen, das die Verbindung zwischen allen drei Gehirnteilen aufrechterhält. Das Stammhirn braucht vom lymbischen und vom Frontalhirn die Anfrage um Erlaubnis für Neues, sonst bricht seine primitive Brachialgewalt durch. Das lymbische System muss seine emotionalen Fähigkeiten als Vermittler zwischen Stammhirn und dem präfrontalen Gehirn einsetzen, damit dieses Neues ausprobieren und aufbauen kann.

 

In Zeiten großer persönlicher Not, hört die normale Interaktion im Gehirn auf und es schaltet um auf „Traumahirn“. Wichtige interagierende Brücken und vor allen kognitive Verbindungen werden im „Tramahirn“ unterdrückt, das Stammhirn macht nun alles alleine, mit primitiven und kraftvollen Instinkten: Auf Gefahr folgt Angriff, Flucht oder Täuschung (Todstellreflex), und als letzte Überlebensstrategie spaltet der Organismus vom momentanen Erleben ab, er dissoziiert.

 

 

 

Die Person ist im jeweiligen Kontext zu sehen, nicht nur im intrapsychischen Erlebnisraum

 

Dieser Mechanismus erklärt vielleicht den großen Erfolg der italienischen populistischen Führer in der gegenwärtigen Politik Italiens. Silvio Berlusconi ist der Zaubermann und für Millionen ein väterlicher Märchenprinz, ein Retter in der Not. Beppe Grillo, der inzwischen die zweitstärkste politische Macht lenkt, ist Vertreter der Volks-Aggression und Wut, die Bauch-gesteuert alles Alte bedingungslos ausradieren will, um Italien von Grund auf neu zu starten. Er hat mit seiner Botschaft besonders bei den jungen Wählern viel Erfolg. Matteo Renzi, der Chef der stärksten Partei, versucht mit Volksnähe und Herz seine ambitionierten Projekte für Italien im Alleingang durchzuboxen.

 

Alle drei bekämpfen sich aufs härteste. Renzi: „Mit zwei verurteilten Gesetzesbrechern werde ich nie eine Regierung bilden.“ Grillo über Renzi: „Er ist wie ein gefährliches, faules Gemüse für Italien.“ Berlusconi über Grillo: „Er ist wie ein gefährlicher Sektenführer.“ Berlusconi über Renzi: „Er ist ein netter Junge ohne jede Erfahrung, hat alles von mir abgeschaut und ist nur meine billige Kopie. Nur das Original kann Italien wie ein gütiger weiser Vater retten.“ Grillo über Berlusconi: „Ein alter, bedeutungsloser Mann.“

 

Wenn ich das mit der Theorie der Trauma-Psychotherapeutin Michaela Huber vergleiche, die heilsame Veränderung bei großen Problemen auf die drei kurze Begriffe bringt: „Altes erkennen, anerkennen und verändern“, dann erwarte ich mir für Italien wenig Heilsames.

 

Menschen, die in Therapie kommen, kommen nie mit ihrem persönlichen Problem alleine, sondern sie sind immer auch politisch, sozial, wirtschaftlich und hauptsächlich emotional im jeweiligen politischen Kontext verstrickt. Ihre persönliche Not wird durch ein Angst einflößendes Umfeld und durch düstere Zukunftsvisionen sicher nicht leichter. Das außen Erlebte wird verinnerlicht. In der Psyche werden ähnliche Ziele und Wertvorstellungen angestrebt wie es der soziale Kontext tut, und dies mit der entsprechenden emotionalen Ladung. Innere Allianzen werden gesucht und aufgebaut und so entsteht eine weitere Ich-Identität. Ist diese im Gehirn einmal gespeichert, kann sie nicht mehr so einfach gelöscht werden.

 

 

 

Das Kern- Ich und die vielen Teil- Ichs

 

Der Gehirnforscher Gerhard Roth sprach bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2001 über Gehirn und Seele. Er fragte: „Wo im Gehirn existiert das Ich? Wann und wie entsteht es? „Ich“ ist, ähnlich wie „Geist“ oder „Bewusstsein“, einer der komplexesten Begriffe der Geistesgeschichte. In Entsprechung zu den oben genannten Bewusstseinszuständen ist das Ich modular, d. h. aus funktional unterschiedlichen Untereinheiten aufgebaut. Hierzu gehören:

1) das Körper-Ich (dies ist mein Körper)

2) das Verortungs-Ich (ich befinde mich gerade an dem und dem Ort)

3) das Ich als Zentrum individuellen Verhaltens und Erlebens (perspektivisches Ich)

4) das Ich als Subjekt perzeptiver, kognitiver, emotionaler Leistungen
 und Zustände (ich habe diese Wahrnehmungen, Ideen, Gefühle)

5) das Handlungs-Ich (ich tue gerade dies und das)

6) das Autorschafts- bzw. Zurechnungs-Ich (ich bin Verursacher und Kontrolleur meiner Gedanken und Handlungen)

7) das autobiographische Ich (ich bin derjenige, der ich früher war)

8) das sprachliche Ich (Reden über sich selbst als überdauernde Einheit)

9) das (selbst-) reflexive Ich (Nachdenken über sich selbst) und

10) das ethische Ich bzw. das Gewissen.

11) das Haut- ich erzählt vom somatischen Erleben

Man unterscheidet diese verschiedenen Ich- und Bewusstseinszustände vor allem deshalb, weil sie „dissoziieren“, d. h. unabhängig voneinander beeinträchtigt sein können. Es gibt entsprechend Patienten, die ein normales Ich-Bewusstsein besitzen, aber nicht wissen, wer sie sind; andere wiederum behaupten, der sie umgebende Körper bzw. einzelne Körperteile gehörten nicht zu ihnen. Auch kann eine Leugnung der Autorschaft eigener Ideen und Handlungen auftreten, und zwar aufgrund neurologischer oder psychologischer Erkrankungen; „Ich werde gedacht“ usw.“

 

Der Begriff „Ego-state-Therapie“ kommt aus Amerika und kann auch als Therapie der „Ich-Anteile“ beschrieben werden. Die Methode wurde vom Ehepaar John und Helen Watkins entwickelt: „Ego-State ist die Bezeichnung für einen Gedankenzustand („state of mind“, Daniel Siegel 1999), also ein komplexes neuronales Netzwerk, entstanden als Reaktion auf eine Herausforderung von außen oder von innen und ist ein physiologischer Zusammenschluss von Erregungen im Gehirn, die aus den Bereichen Emotion, Körpergefühl, Glaubensüberzeugung und Verhalten stammen.“

 

Der Felt Sense, ein bereits gespürtes aber noch nicht gewusstes Körperwissen, kann helfen, solchen tiefen Gefühlen im Bach näher zu kommen.

 

Das von den verschiedenen Therapieschulen Gefundene steht heute allgemein zur Verfügung:

Freud ging im „Es – Ich – Über-Ich“ von mehreren inneren Selbst-Teilen aus.

C. G. Jung entdeckte die Archetypen und komplexen Strukturen, die die Persönlichkeit prägen.

M. Klein und O. F. Kernberg arbeiteten mit inneren Objekten und abgespaltenen Teilen in der Arbeit mit Schizophrenen.

Das Ehepaar John und Helen Watkins forschten und entwickelten die Ego- States- Theorie und Therapie.

R. Assagioli und P. Ferrucci in Italien nannten ihre Forschungsarbeit „Psychosynthesis“, die Personen-Teile nannten sie „subpersonalities“.

E. Berne unterteilte in der Transaktionsanalyse in: Eltern-Ich – Erwachsenen-Ich – Kind-Ich.

Richard Schwarz begründete das „Inner Family System“.

W. H. Missildine und J. Bradshaw unterschieden in der „inneren Kindarbeit“ zwischen Säuglings-Kind-, Schulkind-, Erwachsenen-Selbst.

F. Schulz von Thun wurde mit dem „Inneren Team“ der situationgerichteten Kommunikation bekannt.

Im Focusing hat man die strukturgebundenen Phänomene der Charakterstrukturen.

In der Schematherapie von Jeffrey E. Young arbeitet man mit deb verschiedenen Schemata.

In der "Systemischen Hypnotherapie" hat Gunther Schmidt die "Konferenz der inneren Familie" und das "innere Parlament" als brauchbare Metapher gefunden.

 

Dazu Eugene Gendlin: „Haben Sie nicht von jeder Theorie, die Sie studiert haben, etwas gelernt? ...wenn das Gelernte implizit gesteuert ist, kann man es neu und genauer ausdrücken … Wenn man Theorien so benützt, helfen sie alle. Je mehr Theorien desto besser. Benützt man sie aber für sich alleine, ohne Wechselwirkung mit dem Erleben, so sind sie nicht nur falsch, sondern auch schädlich, denn sie zerstören den Menschen.

(S. 112 / 2008)

 

Michaela Huber zeigt, wie man mit inneren Landkarten arbeiten kann, die immer in einer Beziehung zur Außenwelt stehen. Das gibt es Anteile des Beschützers, des Wütenden, depressive, traurige, täuschende, Kind- und Erwachsenenanteile, weise und dunkle, verborgene und sogenannte normale Anteile. Diese lebendigen Anteile haben beim integrierten Menschen Bewegungsmöglichkeiten, da die Bedingungen günstig sind. Die verborgenen Anteile können sichtbar gemacht werden, verbannte Kinder können erlöst werden, rigide Manager und innere Kritiker können in den Ruhestand gehen, pubertierende Anteile können einsehen, dass sie nicht mehr kämpfen müssen, fröhliche Kinder können den alten Menschen bis zum Lebensende begleiten. Der sichere Ort kann im Körper und auch außerhalb, etwa auf einer schönen Bergwiese mit Wildbach gefunden werden. Er bietet Schutz und spendet Kraft, man kann sich vom Stress erholen.

 

Alle Ich-Teile beziehen sich auf Vernetzungen von Erlebnis- Elementen, die im Episodengedächtnis gespeichert werden und in Wechselwirkung alle aufeinander einwirken. Solche Netzwerke gehen in jeder Episode, die man im Laufe seines Lebens erlebt, mit reichlicher „emotionaler Ladung“ einher. So wie es ein Kurzzeitgedächtnis, ein Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis gibt, gibt es auch ein Episodengedächtnis.

 

Gunther Schmidt beschreibt diese emotional aufgeladenen Episoden-Netzwerke als komplexe „Verkoppelungen“ von Erlebnis-Elementen: Gedanken, Gefühle, innere Dialoge, innere „Filme“, Erinnerungen, Zukunfts-Phantasien, Empfindungen, Atmung, Körper-Koordination, Muskel-Aktivität, sonstige physiologische Prozesse wie Hormon-Regulierung, Blutdruck, Herzschlag, Immunsystem, Gen-Aktivitäten, Alters-, Grössen-, Raum-Erleben, Kompetenz-Erleben, Verhalten, Kommunikation, Ort, Zeit usw.

 

Je nachdem, was durch Fokussierung gerade am meisten assoziiert wird, erleben wir uns, die Anderen und die Welt entsprechend anders. Wir sind sozusagen alle multiple Persönlichkeiten, mit einem wahrnehmenden Steuer-Ich im Zentrum. Der jeweils aktuelle Fokus wird als Wirklichkeit erlebt. Traum-Prozesse wirken in der Nacht oder als Tagtraum. Imaginäre Wunsch-Erlebnis-Fokusse öffnen einen anderen Handlungsraum als Problem-Fokusse.

 

Auf die Bitte, er solle doch etwas aus seiner Kindheit erzählen, fragte Gunther Schmidt: „Aus welcher von meinen 1500 Kindheiten soll ich erzählen?“
Wenn ich mit bedingungsloser Präsenz zu meiner Kindheit hinschaue, ist sie jedesmal ganz so, wie ich mich selbst im jetzigen Kontext wahrnehme.

 

 

 

Meine innere und äußere Bühne

 

Dieses „Viele sein“ ist mir nicht neu. In meinem früheren Theaterleben erkundete ich reiche innere Welten, aus denen ich meine Haupt- und Nebenrollen von der inneren Bühne auf die äußere Bühne brachte. Mich immer wieder in anderen Rollen ausprobieren, in einer fantastischen Welt mitspielen, mich aussagen und gestalten, voll Neugierde und Forscherdrang, war mein Überleben im Sinne des portugisischen Dichter Fernando Pesoa, der sagte: „Leben ist Bewegen, Überleben sich Aussagen“. Das bloße Leben wäre auf jeden Fall zu wenig. Feldenkreis sagte dazu: „Die meisten Menschen atmen gerade soviel, dass sie nicht sterben“. Das ist kein gutes Leben.

 

Bei der Inszenierung von Franz Kafkas „Schloss“ waren wir 8 gleich gekleidete Schauspieler, unsere Kostüme bestanden aus zusammengefügten Teilen. Wir erarbeiteten gemeinsam Grundtexte aus dem Roman. Jeder von uns musste alle diese Grundtexte auswendig können und konnte somit je nach Bedarf alle Rollen spielen. Das Bühnenbild bestand aus 8 gleichen Stahlpyramiden, für jeden Spieler eine, mit schweren Betonsockeln, die auf langen Stahlnägeln vom Boden abgehoben waren. Jede Aufführung war anders, da einer von uns einfach mit einem Text seiner Wahl oder Intuition begann und die anderen je nach Stimmung oder Situation darauf reagierten und weitermachten. Alle Spieler waren das ganze Stück lang auf der Bühne, denn keiner konnte aussetzen. Auch wer gerade nicht spielte, blieb innerlich dabei, um rechtzeitig zu interagieren, wenn er das Gefühl hatte oder ihn ein anderer einlud.

 

Wer ist die Hauptperson dahinter? Der Schauspieler ist jemand, der sich über die Rolle zeigt, nicht einer, der sich in der Rolle versteckt. Dafür braucht es Wachsamkeit, Präsenz und ein Gefühl für das Ganze und den Anderen. Wofür spielt er? Welches Ziel hat er? Schafft er es, im Kontext zu bleiben oder sich zu verweigern und eine Gegenrichtung einzuleiten? Er hat seinen Ausgangspunkt, die Pyramide, von der er sich immer wieder ins Zentrum, den Schlosswelten entgegen, bewegt, doch er kehrt zuletzt immer zu seiner Pyramide zurück, wenn er seine Kräfte und seinen Freiraum verliert.

Heute setze ich mich mit so ziemlich ähnlicher Aufregung auf den Stuhl in die Nähe des Klienten, wie ich früher auf die Bühne ging, mit der Experimentierfreude des Anfängergeistes. Wie ich früher das Alte Augenblick für Augenblick auf der Bühne neu erschuf, begleite ich mit ähnlicher Grundhaltung die Welten des Klienten, den Rucksack mit ein paar Therapie- Beraterwerkzeugen habe ich griffbereit.

 

Der große Theaterlehrer Lee Strassberg verglich 1987 im Bochumer Schauspielseminar das Theater mit frisch fallendem Schnee, er sei so schön frisch, weich, nativ, rieche gut und schmelze wieder, wenn das Stück vorbei ist.

Sollte es dem Wegweiser, der ja nie selbst weitergeht, bei seinen vielen Wegen, die er weist, langweilig werden, kann er sich immer noch mit Woody Allen trösten: „Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme selten dazu.“

 

"Ich möchte ein solchener werden, wie ich schon einer war"

(Casper Hauser, der schönste Krimi aller Zeiten)

 

Nichts geblieben,

nichts geschwunden.

Alles jung und alles alt.

Tod und Leben sind verbunden.

Zum Symbol wird die Gestalt.

 

Literaturliste

  • Titel – „Viele sein - er ist ein solcher gewesen, wie er jetzt einer ist“. Aus einem Theaterstück von Guido zu Casper Hauser

  • Johannes Wiltschko – Ich spüre, also bin ich!

  • Daniel J. Siegel – das achtsame Gehirn

  • Moshe Feldenkrais – die Entdeckung des Selbstverständlichen

  • Michaela Huber – Wege der Traumabehandlung

  • Eckhard Roediger – Praxis der Schematherapie

  • Roberto Assogioli – Psychosynthesis

  • Arno Gruen – das Fremde in uns

  • Peter Frenzel – Selbsterfahrung als Selbstfindung (Personzentrierte Psychotherapie nach C. Rogers im Lichte von Konstruktivismus und Postmoderne

  • Richard C. Schwarzer – das System der Inneren Familie

  • Schulz von Thun – das innere Team in Aktion

  • Schmidt Gunther – Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung

  • Jochen Peichel – Jedes Ich ist viele (die inneren Selbst – Anteile als Ressource nutzen)

  • Guido Moser – Randsteine personzentriert

  • Susanne Kersig – Im Dialog mit dem Körper

  • John G. Watkins / Helen H. Watkins – Ego-States – Theorie und Therapie ein Handbuch

  • Didier Anzieu – Das Haut- Ich