Körper und Grenzen bei Jugendlichen
ein personzentrierter Ansatz für Arbeit mit Jugendlichen

 

Guido Moser

 


 

Sie lieben das Risiko: Im Alter von 14 Jahren zeigen Jungen den stärksten Drang zur Waghalsigkeit. Die jungen Draufgänger entscheiden sich bewusst fürs Risiko, wie Wissenschaftler nun herausfanden. Ob man als Draufgänger durchs Leben geht oder Wagnisse scheut, hat verschiedene Gründe. Es gibt Untersuchungen, die belegen konnten, dass Draufgängertum in der Familie liegt. Ebenso gibt es bereits Hinweise darauf, dass Mut und Risikobereitschaft in unserem Erbgut verankert sein können. Aber hängt der Wille zur Waghalsigkeit nicht vielleicht auch vom Alter ab? In der Online-Ausgabe des Fachmagazins "Cognitive Development" nehmen Teenager, wie zu erwarten, im Vergleich zu Erwachsenen das höchste Risiko auf sich. Aber auch im Vergleich zu jüngeren Kindern haben sie eine höhere Risikobereitschaft.

 

 

 

"Der Grund, warum die Jugendlichen waghalsiger sind als alle anderen Testpersonen, ist nicht ein Problem der mangelnden Übersicht über die drohenden Konsequenzen. Sie wählen schlicht und einfach das Risiko", erklärt Burnett. Und zwar ganz bewusst. Die Wissenschaftler stellten fest, dass dieses Verhalten bis zum Alter von 14 Jahren zunimmt.

 

 

 

Deshalb gebe es in dieser Altersgruppe auch eine Explosion riskanter Aktivitäten, wozu die Wissenschaftler Experimente mit Alkohol, nachlässige Ernährung und ungeschützten Geschlechtsverkehr zählen. "Es ist das Gesundheitsparadox der Jugend: Der Höhepunkt der körperlichen Gesundheit geht paradoxerweise mit hoher Sterblichkeit und Morbidität einher", sagt Burnett. (25.03.2010 Wochenzeitschrift der Spiegel / Wissenschaft)

 

 

 

 

Die Jugend - eine gefährliche Zeit. Jeder Jugendliche wird heute zum flexiblen Konstrukteur seiner eigenen Biographie mit einem persönlichen Wertekosmos, er kann sein eigenes biographisches und ethisches „Gesamtkunstwerk“ schaffen und inszenieren, ein Gesamtkunstwerk, dessen Inhalt er selbst ist. Wenn die Jugendlichen von der Erwachsenenwelt und der Gesellschaft im Allgemeinen für ihre Anliegen zu wenig Verständnis bekommen und den nötigen Selbstschutz nicht lernen konnten, ist die Gefahr sehr groß, dass sie eigene Wege gehen, ohne Rücksicht auf Grenzen.

 


Grenzen sind von den Jugendlichen erwünscht

 

In meiner bisherigen Erfahrung mit Jugendlichen habe ich immer wieder erlebt, dass Grenzen von den Jugendlichen erwünscht sind, wenn sie für ihren Schutz notwendig sind, wenn der Erwachsene genug Hintergrundwissen besitzt, um ihre Anliegen zu verstehen, und wenn er glaubwürdig mit seinen eigenen Interessen umgehen kann. Jugendliche haben ein großes Gespür für Zwischentöne und sind um so empfindlicher für Heuchelei, Täuschung und Lüge. Grundwerte sind für sie absolute Werte, die die Humanität des Menschen begründen: Freiheit, Leben und Würde der Person, Kollegialität.

 

 

 

Manchmal werden von den Erwachsenen unreflektierte Erziehungsmethoden benützt, um scheinbare Grenzen bei den Jugendlichen zu erzwingen - im Sinne: „wer nicht hören will, muss fühlen": Diese steinzeitliche Erziehungsmethode erlebt jeder fünfte Jugendliche in Südtirol am eigenen Leibe. Für die ASTAT-Studie 2009 befragt, berichteten 18,1 Prozent der Jugendlichen über 14 Jahren von körperlicher Bestrafung durch mindestens einen Elternteil. Bei den Buben (19,9 Prozent) wurde häufiger zugeschlagen als bei den Mädchen (16,2 Prozent) usw... (Dolomitenartikel – Freitag, 20. Aug. 2010)

 

 

 

 

 

Inzwischen gibt es unzählige Erziehungsmodelle und Theorien zu Jugendlichen. Meistens liefern die Erwachsenen die Antworten zu deren Problemen und haben das Gespür für die Antworten, die bereits im Körper der Jugendlichen vorhanden sind, verloren. Eine gute Voraussetzung, um in diesem Dschungel von Theorien und Erziehungsmethoden überleben zu können, sind Intelligenz, Ausgeglichenheit, Selbstbewusstsein, Einfallsreichtum und die Fähigkeit, den eigenen Körper als nie endende Quelle für immer neue Ressourcen zu erleben.

Gendlin, der Begründer von Focusing, meint unter „Körper“ nicht nur den, mit dem wir im Sessel sitzen. Er hat, so behauptet er, noch eine andere Sinneswahrnehmung zur Verfügung, nämlich die Fähigkeit, sich selber von innen zu spüren. Es geht ihm um dieses innere Wahrnehmen und Erleben, um den Körper, der nicht nur in Interaktion mit seiner Umgebung steht, sondern der auch aus sich selbst heraus lebt.

 

Jugendliche leben körperbetont

 

Jugendliche leben aufgrund ihrer Entwicklungsphase meistens körperbetont, und über ihre Körpersprache zeigt sich viel mehr als über ihre kognitiven Äußerungen. Der Körper ist in jeder Situation und Interaktion leiblich da und kann nicht vortäuschen, er lebt von innen her wie eine Pflanze oder ein Tier. Nur mit unserem Selbstkonstrukt, nämlich das Bild, das wir über uns im Laufe des Lebens angeeignet haben, können wir unsere Wahrnehmung zum Körper überdecken oder verzerren.

 

 

 

Hauptsächlich im Spiel können mit dem Körper Grenzen erlebt werden, egal, ob es Sportspiele, Rollenspiele oder Balance-Akrobazien sind – da der Körper ja selbst Natur ist, kann keine noch so gut konstruierte Halle die freie Natur ersetzen. Für Jugendliche ist das Spiel im Freien ein Königsweg zu Intelligenz, kreativem Denken und Freude. Nicht spielen zu können, hauptsächlich im Erleben des eigenen Körpers, widerspricht der Natur und führt früher oder später zu Gewalt. Fernsehen oder Computer kann die Interaktion mit der wirklichen Welt nicht ersetzen, denn es kann nichts geschmeckt werden, nichts berührt, gefühlt oder gerochen, und man kann auch nicht damit reden. Man denke nur an den Unterschied zwischen einer realen Farm und dem bekannten Spiel „Farmville“ in Facebook. Der Körper ist immer konkret, die erste Quelle des Erlebens. Der Körper in Interaktion mit der Umwelt schafft immer wieder neue Welten.

 

 

 

Gehirnforscher beobachten, wie neue Umwelt und neue Lebensgewohnheiten Einfluss auf die Körperentwicklung von Kindern und Jugendlichen haben. So hat man, um nur ein Beispiel zu erwähnen, herausgefunden, dass der für die Steuerung der Bewegungen des Daumens zuständige Bereich im Gehirn von Kindern und Jugendlichen seit der Einführung der SMS – Technologie vor etwa zehn Jahren immer größer geworden ist. Gleichzeitig hat sich die Vielfalt und Komplexität der Nervenzellverknüpfungen in einer anderen Hirnregion, dem sogenannten Sprachzentrum, in den letzten Jahren stark verringert. Kinder und Jugendliche können also heutzutage ihren Daumen viel geschickter einsetzen und sich in einer weniger komplizierten Sprache verständigen als die vorige Generation. Keine dieser kulturspezifischen Leistungen ist angeboren.

 

 

 

 

 

„Alles, worauf wir später stolz sind und was uns als Persönlichkeit ausmacht, was wir wissen und können, ebenso wie das, was wir denken und fühlen, ja sogar das, was wir wünschen und träumen und auch, was wir als unsere Muttersprache bezeichnen, verdanken wir dem Umstand, dass es andere Menschen gab, die uns bei der Benutzung und Ausformung der für diese Leistungen erforderlichen Verschaltensmuster in unserem Gehirn geholfen haben. Ohne sie hätten wir womöglich noch nicht einmal gelernt, aufrecht zu gehen...“

(G.Hüther, Gehirnforscher)

 

 

 

Kinder lernen, indem sie spielend ihre Welt erforschen und dem Modell folgen, was ihnen ihre Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen vorgeben. Bei den Jugendlichen ist das anders: Sie wollen selbst erleben, erfahren und ihre Grenzen spüren. Sie brauchen die Erwachsenen und die Gesellschaft, in der sie sich bewegen, hauptsächlich als Schutz, als verstehende Begleitung, Vorbild und Orientierung. Das Gehirn ist auf Lernen spezialisiert, aber niemand kann lernen während er sich gleichzeitig verteidigen muss, auch die Jugendlichen nicht. Wenn sie also zu wenig glaubwürdigen Schutz erleben, tauchen sie bespielsweise in die Welt des Internets ab und holen sich dort ihre Orientierung in der grenzenlosen Konsum- und Spaßgesellschaft.

 

 

Jugendliche auf der Suche nach erwachsen gewordenen Erwachsenen

 

Der Auftrag von uns Erwachsenen zu den Jugendlichen scheint klar zu sein. J. Pearce meint, dass wir Erwachsenen uns selbst zuerst verwandeln müssen, um so eine Bereitschaft für neues Denken, Fühlen und Handeln zu entwickeln. Erst dann können wir glaubwürdige Vorbilder für unsere Jugendlichen sein und und dadurch auch Schutz bieten. Nicht Erziehung, sondern eine bestimmte Art von Erziehung, so Pearce, wird uns weiterbringen. Erzieher müssen selbst wieder Lernende werden, müssen ökologisch wirksames Wahrnehmen und Denken lernen und alles, was dazu gehört, um ein solches Wahrnehmen und Denken zu fördern.

 

„...was auf nichts anderes hinausläuft, als auf einen Neuentwurf der Erziehung selbst.“

(J. Pearce)

 

 

 

 

Für Focusing würde das heißen: Ich kann mit Kindern und Jugendlichen erst Focusing praktizieren, wenn ich in mir selbst die personzentrierte Grundhaltung Achtsamkeit, Akzeptanz, Authetinzität, Kohärenz finde und die Grundregeln des Focusing selber praktiziere.

 

 

Jugendliche sind oft auf der Suche nach erwachsen gewordenen Erwachsenen. Solche, die den Mut haben, Nein zu sagen, die klare Grenzen setzen können, Fehler bei sich selbst zugeben und sich auch trauen, die Jugendlichen auf ihre Unvollkommenheit hinzuweisen. Diese Erwachsenen scheuen sich nicht, sich auf das Unfertige und Experimentelle, das von der Jugend kommt, echt einzulassen. Im diesem Sinne kann nur gelingen, was auch misslingen darf. Wenn die Bezugsperson ihre Unvollkommenheit und Schwächen nicht leugnet sondern dazu steht, werden sie für Jugendliche glaubwürdiger, statt wenn sie diese mit vorgefertigten Theorien belehren wollen.

 

 

 

Die Welt für Neues und Vorwärtstragendes findet sich mehr in der lebendigen, direkten Beziehung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen als in noch so gut gemeinten, doch distanzierten Ratschlägen. Kurz gesagt: Es geht mehr um das „WIE“ und um das "WOFÜR" als um das „WAS“. Dazu braucht es innere Kraft und eine liebevolle Begleitung, und vor allem aktives Interesse für die Richtung, die der Jugendliche andeutet, ganz im Sinn des Philosophen Emmanuel Levinas: „Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden.“ Die Hautfrage des Erwachsenen wird: „Welches Hindernis in mir lässt mich die Antwort, die im Körper des Jugendlichen ist, nicht verstehen?“ Dabei verschwindet der Gedanke: „Ich verstehe den Jugendlichen.“

 

 

 

Die Rolle des Erwachsenen bei seiner Unterstützung der manchmal chaotischen und gefährlichen Wege von Jugendlichen gleicht in vieler Hinsicht der Funktion eines Verbandes. Das Pflaster heilt die Wunde nicht, aber es schützt sie und unterstützt den Körper bei der Heilung.

 


Aus der Traumataforschung bei Peter A. Levine

Peter Levine (somatic experience)

 

Peter A. Levine, der Traumaforscher und Begründer von „somatic experiences“, sieht im Körper alle Ressourcen für ein eigenverantwortliches und zufriedenes Leben, wenn sie verstanden und gefördert werden. Er empfiehlt unter andern auch, sich einige Verhaltensweisen aus dem Tierreich anzuschauen, um die instinktive, körperliche Kraft, die besonders im jugendlichen Körper stark ist, zu verstehen.

 

 

 

Wenn wir Jugendliche beim Erleben ihrer Grenzen helfen wollen, sollten wir über ein Grundwissen zum Körper verfügen. Viele Grundlagen für abweichendes Verhalten bei Jugendlichen sind physiologischer Natur, nicht psychologischer - wie die meisten glauben.

 

 

 

Schon in der frühen Kindheit aufgestaute Energien finden sich oft im Körper von Jugendlichen und sind eine weitverbreitete Ursachen bei gefährlichen Grenzüberschreitungen, wenn sie sich nicht entladen können. Levine nennt einige Beispiele als Ursache für solche aufgestaute Energien, die eventuell noch immer den Körper belasten können:

 


I. Unfälle und Stürze

  • Stürze (Treppen, Betten und hohe Stühle)
  • Sportverletzungen (Sich überschlagen und Hinfallen beim Fahrrad- und Skifahren)
  • Autounfälle (Schleudertrauma, auch bei niedriger Geschwindigkeit)
  • Beinahe Ertrinken und Ersticken

 


II. Medizinische und operative Eingriffe

  • Medizinische u. operative Eingriffe (Genähtwerden, Spritzen, ...)
  • Behandlungen beim Zahnarzt
  • Lebensbedrohliche Erkrankungen u. hohes Fieber
  • Länger anhaltende Bewegungseinschränkung (Gipsverband, Schiene)
  • Vergiftungen
  • Stress im Mutterleib und Komplikationen bei der Geburt (Nabelschnur um den Hals, Drogen und Alkohol etc.)

 


III. Gewalthandlungen / Angriffe

  • Mobbing (Schule, Nachbarschaft, Geschwister)
  • Angriffe durch Tiere (Hunde-, Schlangenbisse)
  • Familiäre Gewalt
  • Gewalt miterleben (dabei sein oder stellvertretend bei Videospielen und Fernsehen)
  • Körperlicher u. sexueller Missbrauch sowie emotionale Vernachlässigung
  • Krieg, Vertreibung und generationübergreifende Folgen
  • Bedrohung durch terroristische Angriffe

 


IV. Verluste

  • Scheidung
  • Tod eines geliebten Menschen oder eines Haustieres
  • Trennung
  • Verlorengehen (im Kaufhaus oder in einer unbekannten Umgebung)
  • Besitz (Verlust des Zuhause oder anderer Besitz durch eine Katastrophe)

 


V. Umgebungsbedingte Stressfaktoren und Naturkatastrophen

  • Extremen Temperaturen ausgesetzt sein (gilt für Kinder und Säuglinge)
  • Naturkatastrophen (Feuer, Erdbeben, Überschwemmungen, Wirbelstürme, Orkane, Vulkanausbrüche)
  • Plötzlich auftretende laute Geräusche wie Auseinandersetzungen, Gewalt, Donner etc., vor allem, wenn das Kind allein ist. (gilt für Kleinkinder und Säuglinge)

 


Solche Traumata treiben ihr Unwesen, bis sie verstanden und entladen werden. Sie können oft Jahrzehnte im Körper getragen werden und so das Sicherheitsgefühl schwächen. Das Leben fühlt sich dann oft an wie ein steiler, rutschiger Abhang.

 

 

 

Wenn Jugendliche von solchen Traumatisierungen betroffen sind, können sie verhaltensauffällig werden, aggressiv und gewaltbereit. Daher suchen sie beispielsweise Computerspiele, welche Gewalt verherrlichende Inhalte zeigen und können ihren Eltern und Lehrern gegenüber in Wut geraten, wenn sie ihnen verboten werden. Studien haben gezeigt, dass besonders Jugendliche, die unter solchen Symptomen leiden, Führung und Unterstützung von den Erwachsenen wünschen. Oft kann man schon an der Körpersprache und an plötzlichen Veränderungen im Verhalten merken, dass die Jugendlichen Hilfe benötigen. Sie wissen nicht, dass ihnen etwas Schlimmes angetan wurde; stattdessen denken sie häufig, sie seien böse.

 

 

 

Bei sexuellem Missbrauch kann man manchmal Dissoziation (Abtrennung vom Gefühl als Schutz für die Person) feststellen, die dem Kind zuerst hilft, sich von seinen unerträglichen Qualen zu distanzieren. Wenn diese Abtrennung allerdings lange weiterbesteht, wird die Lern- und Beziehungsfähigkeit stark beeinträchtigt.

 

 

Was geschieht, wenn natürliche Entwicklungsschritte nicht gemacht werden können

 

Was in der Zeit von der Fötalperiode bis ins zweite Lebensjahr hinein geschieht, bildet ein Grundschema, das jedes System im Körper beeinflusst: das Immunsystem ebenso wie den Ausdruck und die Steuerung von Gefühlen, die Belastbarkeit des Nervensystems, die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit und Intelligenz sowie die Selbstregulierungsmechanismen für so grundlegende Dinge wie Körpertemperatur und Hormonproduktion. Das Gehirn wird so programmiert, dass Angst, Wut und Hilflosigkeit zum „normalen“ Grundgefühl des Lebens werden. Das hat enorme Einwirkungen auf die Entwicklung des Gefühlslebens, des Verhaltens sowie auf das Stress- und Immunsystem eines Kindes und später des Jugendlichen. Ist das Kind dauerhaft einer belastenden Umgebung ausgesetzt, reagiert es mit Benommenheit und Gefühllosigkeit, weil Angst und Schmerz immer unerträglicher werden und es dann besser ist, gar nichts zu fühlen. Verhaltensstörungen können sich dann später zeigen, als Schulphobie, Angststörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität, dissoziative Störung, Verhaltensauffälligkeit oder Depression.

 

 

 

Eine besonders kritische Entwicklungsstufe in der Kindheit ist der Zeitraum zwischen dem sechsten und achten Lebensmonat. Das Kind reagiert auf die Antwort der Bezugspersonen mit Augenkontakt und Lautäußerungen. Die Selbstberuhigung hängt von der gefühlsmäßigen Qualität der Erwiderungsbereitschaft eines anwesenden Erwachsenen ab. Ist der Erwachsene selbst in seinen Gefühlen blockiert, kann dieser Austausch nicht stattfinden. Daraus ist ersichtlich, wie wichtig die Überprüfung der eigenen emotionalen Körperreaktionen ist, denn nur was ich bin und spüre kann ich weitergeben. Je jünger ein Kind ist, um so eingeschränkter sind seine Möglichkeiten, sich zu schützen, und um so verletzlicher ist es infolgedessen. Untersuchungen zeigten, dass Jugendliche, die Gewalthandlungen in ihrer Kindheit miterlebt haben, mit dreifach höherer Wahrscheinlichkeit Alkohol- und Drogenprobleme bekommen. Dabei treten einige geschlechtsspezifische Unterschiede auf: bei Mädchen gibt es mehr nach innen wirkende Störungen, wie Rückzug, Depression, somatische Störungen - bei Buben sind es mehr nach außen gerichtete Symptome wie Reizbarkeit, Widerstand, übertriebene Risikofreude, Hyperaktivität.

 

 

Forschung

 

Prof. Georg Röggla aus Wien fand, dass Leute, die sich Helden als Bergführer wählen, öfter verunglücken als solche, die „gemütliche“ Bergsteiger als Führung aussuchen. Der Held sucht für sich immer den schwierigeren und gefährlicheren Grat. Dadurch kennt er die Grenzen – seine und die der anderen – weniger gut. Außerdem bedingt sein Heldsein wahrscheinlich ein frühkindliches Trauma, wie oben beschrieben. In unserer Gesellschaft – egal, ob es sich um Politik, Wirtschaft, Sport oder Kunst handelt, werden jedoch immer noch Helden gesucht und gefeiert. Insbesondere reift eine ganze Generation von Babyboomern heran, die mit den Jugendlichen in ihrem körperlichen Leistungsnarzismus wetteifern, statt Orientierung und Ausgeglichenheit vorzuleben.

 


Wie man Traumata bei Jugendlichen erkennt

 

Das Jugendalter ist nicht einmal unter den besten Bedingungen eine einfache Zeit. Oft herrscht hormonales Chaos in einem groß gewordenen Körper. Jugendliche müssen lernen, mit Leistungsdruck umzugehen, damit sie zu eigenständigen Persönlichkeiten heranreifen. Sie sollten ihre Zukunft planen und ihre sexuelle Entwicklung bewältigen können. Außerdem sind sie intensivem Gruppendruck ausgesetzt, der sie dazu verpflichtet, sich gegen die Ideale der Eltern zu stellen. Depression und Angst stehen häufig symptomatisch für traumatischen Stress, aber leider werden diese Symptome meistens medikamentös behandelt. Selten sucht man nach den Problemen, die diesen Symptomen zugrunde liegen.



Prüfliste für Trauma-Symptome bei Jugendlichen von P. A. Levine:

  • Abrupte Veränderungen in Beziehungen, z. B. plötzliches Desinteresse an Menschen, die zuvor noch sehr gemocht wurden
  • Absonderung und Rückzug
  • Grundlegende Veränderungen in den Zensuren, Lebenseinstellungen und/oder im Erscheinungsbild
  • Plötzliche Verhaltensänderungen, wie lebensgefährliches Wiederholen der traumatischen Situation oder anderer Arten von Waghalsigkeit
  • Plötzliche Stimmungsschwankungen, vor allem auftretende Angst, Depression und Selbstmordgedanken
  • Alkohol- und Drogenabhängigkeit
  • Plötzliches Desinteresse an bislang bevorzugten Hobbys oder Sportarten
  • Reizbarkeit, Wut und Vergeltungswünsche
  • Häufig wechselnde Sexualpartner oder übermäßige sexuelle Aktivität

 

Des weiteren besteht Gewissheit darüber, dass anhaltende Symptome von ihrer Tendenz her alles durchdringen: Sie beeinflussen die körperliche, emotionale, spirituelle, kognitive und die Verhaltensentwicklung der Betroffenen. Schon daher ist eine ausschließliche Symptombehandlung fragwürdig.

 

 

Was tun?

 

Wie kann man Jugendlichen in solch schwierigen Situationen helfen? Da die Fähigkeit des Körpers zu gesunden angeboren ist, hätte man als Erwachsener eigentlich eine einfache Rolle: den Jugendlichen wieder zu helfen, Zugang zu dieser Fähigkeit der Selbstheilung zu finden. Da die Störung ja im Körper liegt, kann sie nur durch den Körper wieder geheilt werden. Zu Körperarbeit gibt es viele Möglichkeiten. Mein eigener Arbeitbereich umfasst folgende: Die Feldenkraisarbeit, in der für jedes Problem viele Lösungsmöglichkeiten gefunden und ausprobiert werden. Focusing, bei dem der Zugang für die tiefe, innere Körperwahrnehmung gefunden wird. Bones for life, wo es um somatisches Lernen geht. Trauma- Arbeit nach P. Levine (somatic experience) und Luise Reddemann PITT- Arbeit (Psycho- Imaginative Trauma- Therapie), z. B Rollenspiele, die sich in meiner Arbeit mit Jugendlichen als sehr hilfreich erweisen, da sie alle ressourcenorientiert sind. Nirgends aber ist die einzelne Übung wichtig, stattdessen geht es um ganzheitliche körperliche Prozesse. Eigentlich jede körperbetonte freiwillig gewählte Tätigkeit kann den Jugendlichen helfen – egal, ob es sich um Sport, Gartenarbeit handelt oder darum, eine Waldhütte zu bauen. Auch die Haltung einer ruhigen, zentrierten erwachsenen Präsenz, egal in welcher Situation, wird meistens vom Jugendlichen selbst, der oft hektisch unterwegs ist, sehr geschätzt.

 


Grundwissen zu den drei Hirnregionen

 

Ein lapidares Grundwissen über Gehirn und Verhalten ist auch ziemlich hilfreich bei begleitender Unterstützung von Jugendlichen, in ihrer Selbstfindung der Formen und Grenzen. In meiner Erfahrung mit Jugendlichen und Kindern habe ich immer wieder gespürt, dass sich die Lösung zu jedem Problem von alleine zeigt, wenn verstanden wird, wie es zur Störung gekommen ist. Dieses Verstehen liegt immer schon in der Antwort, die der Körper gibt, und es gilt nur, empfänglich dafür zu werden.



Hier für das genannte Grundwissen eine kurze vereinfachte Darstellung des dreifältigen Gehirns nach P. Levine:

 

Der Mensch besitzt ein dreifältiges Gehirn. Einfach gesagt ist es aus drei ineinander greifenden Bestandteilen aufgebaut, die im Idealfall harmonisch zusammenwirken.

  • Der Neokortex, die Gehirnrinde (der stammesgeschichtlich jüngste Teil des Gehirns). Hier geschehen Problemlösung, Planung und andere komplexe, rationale Denkfähigkeiten.
  • Das Säugetierhirn (Mittelhirn), auch limbisches System genannt. Es ist für Gedächtnis und Emotionen verantwortlich.
  • Das Reptilienhirn (unteres oder primitives Gehirn). Es ist für das Überleben zuständig sowie für unzählige Funktionen, die mit ihren Regulationsmechanismen die Grundlage des Daseins schaffen.

 

Jede dieser drei Regionen hat hochspezialisierte Funktionen und jede spricht ihre eigene Sprache. Das denkende Gehirn spricht in Worten, das emotionale Gehirn arbeitet mit Gefühlen und Emotionen, wie z. B. Freude und Angst. Das Reptilienhirn hat eine ganz eigene Wirkungsweise, nämlich über körperliche Empfindungen. Diese sind für viele Menschen in den zivilisierten Ländern oft nicht wahrnehmbar und müssen erst gelernt werden. Es ist eine Welt in unserem Inneren, wie eine autonome innere Landschaft.

Wie sollten diese drei Hirne miteinander komunizieren

Das Reptilien- oder Stammhirn: Jugendliche brauchen die von der erwachsenen Bezugsperson vorgelebte Kraft des Reptinienhirns, also der Instinkte (Hütten bauen, durch wilde Landschaften streifen, Feuer machen, eine Nacht in der Wildnis verbringen usw.), damit der Neokortex (das intuitive Gehirn) Sicherheit bekommt und sich in diesem Schutzraum entfalten kann und Neues entwickeln. Für diese Verbindung zwischen Instinkten und Intuition braucht es das Mittelhirn (limbisches Gefühlshirn).



Focusing

 

Die Arbeitsweise des Reptilienhirns spüren zu lernen ist dem Erlernen einer Fremdsprache ähnlich. Focusing beschäftigt sich hauptsächlich mit der vorurteilsfreien Erforschung dieser inneren Welt. Es braucht dafür ein wenig Zeit, in der man nicht abgelenkt wird und ruhig darauf achten kann, wie sich der Körper von innen fühlt. Die Empfindungen können von Druck– oder Temperaturveränderungen auf der Haut bis zu Vibrationen, Darmgeräuschen, Muskelanspannung, Beklemmung, Zittern, Raumgefühl und tief im Innern befindlicher Hitze reichen. Dieses unser Reptilhirn sorgt unter allen Umständen für unser physisches Überleben. Es interessiert sich weder für Sprache, noch für Territorium oder Emotionen. Es reagiert bei großer Gefahr durch Flucht, Angriff oder Erstarrung - immer um das Überleben zu sichern. Die Empfindungen, von denen es gelenkt wird, sind rein körperlich.

 

 

 

Körperempfindungen sind ganz etwas anderes als Emotionen oder Gefühle. Ein Wortschatz für Empfindungen sind: kalt/warm/heiß, Nervenzucken, schneidend/gefühllos, verschwommen, kribbelig, Gänsehaut, leicht/schwer, offen/unzugänglich, angenehm, seidig usw.

 

 

 

Eine der vielen Übungen, die im Trainingsprogramm für ganzheitliches körperliches Erleben angeboten wird, ist das Pendeln zwischen angenehmen und unangenehmen Empfindungen, Emotionen, Bilder und Sprache. Dabei wird klarerweise auch zwischen diesen drei Hirnzentren gewechselt. Diese Übung wird von den meisten Jugendlichen nach einer guten Einführung fast immer wohlwollend aufgenommen. Es führt uns hin und her zwischen Empfindungen, Emotionen und Episoden aus der Vergangenheit und dem gegenwärtigen Erleben im aktuellen Augenblick, welches das Auftauchen von neuen Erfahrungen, Bedeutungen und Zukunftsvisionen erlaubt. So können auf ganz natürliche Art neue Ressourcen im Körper gefunden und die eigenen Grenzen gespürt werden.

 

 

 

 

 

Weiters empfiehlt es sich, in der Körperarbeit mit Jugendlichen offene Fragen zu benützen:

 

 

„Was spürst du in deinem Körper?“ statt „Fühlst du dich angespannt?“

 

„Wo spürst du das in deinem Körper?“ statt „Spürst du es im Brustkorb?“

 

„Was erlebst du gerade?“ statt „Fühlst du dich wackelig?“

 

Diese Fragestellungen sprechen eher das Reptilienhirn an als die analytisch denkende Großhirnrinde, denn die Antworten werden erst im Körper entwickelt. Dafür braucht es mehr Zeit, weil sie nicht vom Gedächtnisspeicher abgerufen werden sollen. „Warum“- Fragen sollte man daher möglichst vermeiden.

 

 

Fragen, die den Körperprozess weitertreiben:

 

 

„Was bemerkst du noch?“ statt „Nimm wahr, dass deine Augen zwinkern.“

 

„Möchtest du...?“ statt „tue...“

 

„Würdest du bei dem Gefühl bleiben wollen und schauen was passiert?“ statt “versuche...“

 


 

Einzelheiten von den Empfindungen werden etwa so erforscht:

 

 

Welche Eigenschaft hat diese Empfindung? Hat sie eine Größe? Form? Farbe? Gewicht? Hat sie eine Richtung? Geht der (Druck, Schmerz, Wärme etc.) von innen nach außen oder umgekehrt? Kannst du einen Mittelpunkt feststellen, eine Ecke?

 


 

Man kann sich bewusst durch die Zeit hindurchbewegen, etwa angeregt durch die Frage:

 

 

Was passiert als Nächstes? Wo geht die Empfindung hin, während du ihr folgst? Wie verändert sie sich? Worauf bewegt sie sich zu (oder: worauf würde sie sich zu bewegen, wenn sie könnte)?

 


 

Man kann Empfindungen auskosten und vertiefen:

 

 

Erlaube dir, diese Empfindungen (warm, weit, prickelnd etc.) zu genießen, solange du möchtest.

 

 

Körperliche Tiefenprozesse wahrnehmen

Das sind einige Möglichkeiten, wie die physiologische „Ereigniskette“ innerhalb des Körpers wieder ins Fließen kommt wenn sie blockiert ist. Wenn der natürliche Energiefluß zwischen Innen- und Außenwelt in Bewegung gehalten wird, findet der Körper von alleine, was er für sein Wohlbefinden braucht und schafft natürliche Grenzen – genau wie bei den Tieren in freier Wildbahn. Der bekannte Psychologe und Begründer des personzentrierten Ansatzes Carl Rogers spricht von der „Selbstaktualisierungsdendenz“ in jedem Organismus. Darunter versteht er die „jedem Menschen inne wohnende Eigenschaft, sich unter günstigen Bedingungen zum Besseren weiter zu entwickeln“. Mosche Feldenkrais geht vom „organismischen Lernen“ aus. „Organismisches Lernen liegt nämlich in der Natur des zentralen Nervensystems, und der Mensch ist nach Feldenkrais optimal zu lebenslangem Lernen veranlagt. David Bohm, der berühmte Quantenphysiker spricht von der propriozeptiven Wahrnehmung des Denkens, die von der Person entwickelt werden muss, um die Antworten zu verstehen, die im Körper liegen, der immer genau weiß, was er im Augenblick braucht. Propriozeption ist die neurophysiologie Eigenwahrnehmung des Körpers. Nach Bohm können wir sagen, dass sämtliche Probleme der Menschen auf die Tatsache zurückzuführen sind, dass das Denken nicht propriozeptiv ist, da es sich nicht selbst als denkend wahrnehmen kann und nicht merkt, dass es selbst die Probleme schafft für deren Lösung es sich bemüht, während der Körper sehr genau spürt was in ihm vorgeht und jeden Schaden sofort bemerkt. („Randsteine personzetriert zu C. Rogers, M. Feldnekrais, David Bohm“, Seite 83 bis Seite 111 von Guido Moser, Verlag DIE BLAUE EULE)

 

 

 

Bemerkungen zum Körper von Gene Gendlin, dem Begründer von Focusing als Gedankenanregungen:

 

 

"Das ist vielleicht der wichtigste Unterschied. Viele Jahre lang haben wir die Unterscheidung zwischen Intellekt und Gefühl diskutiert. Jetzt steht die Unterscheidung zwischen Gefühl und Körper an. Das ist wirklich etwas anderes."

 

"Es ist ein situationaler Körper, also nicht von der Situation getrennt begreifbar. Der Körper ist die Situation. Die Situation ist der Körper. Beide sind ineinander enthalten. Beide kreieren sich wechselseitig."

 

 "Der Körper weiß etwas über die vergangene und gegenwärtige Situation. Und auch über die Zukunft: er kennt den nächsten Schritt, der die Situation fortsetzen wird."

 

"Jede Situation, jedes Stückchen Praxis, impliziert viel mehr als jemals gesagt wurde. Es ist ein sinnenhaftes Gefühl in unseren Körpern, eine merkwürdige Qualität, eine Beunruhigung, ein Hunger, ein Verlangen, das auf eine sehr fordernde Weise weiß, was es will."

 

"Wir müssen tatsächlich durch unsren Leib hindurch aufmerksam sein, wenn wir über eine Situation oder irgendein Thema tiefer nachdenken wollen als nur im Bereich dessen, was offensichtlich ist. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit weiter ausdehnen als über den Bereich des Offensichtlichen, um uns als Menschen zu entwickeln."

 

"Unsere Leiber tragen unsere Situationen. Wir tragen unser Leben mit in uns. Unser Leib kann jahrelange Erfahrungen verschiedenster Art vereinen und uns jederzeit etwas Neues geben, einen neueren subtileren Schritt."

 

"Wir sehen, dass der Körper auch den nächsten Schritt (in einem komplexen Lebensprozess) impliziert. Er gibt auch ein direktes Spüren von etwas, das falsch oder nicht stimmig ist."

 

"Wenn wir in einer schwierigen Situation einen leichten oder gewohnten Weg nicht gehen können, und wenn ein neuer Weg sich nicht gleich zeigt, was haben und fühlen wir dann? Konfusion, Frustration vielleicht. Wir fühlen uns blockiert. Aber was ist es, das uns sagt, die alten Wege funktionieren nicht oder sind nicht das, was wir brauchen? Wenn wir uns diese Frage stellen und wenn wir direkt die Aufmerksamkeit darauf richten, was uns hindert, werden wir entdecken, dass wir Gespür haben von dem, was gebraucht wird, wenn wir es nur herausarbeiten könnten."

 

"Wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen, spüren wir mehr, als wir sagen können."

 


Schlussbemerkung

 

Diese Art von körperganzheitlichem Leben und Lernen ist oft wie das Kennenlernen der Gebräuche eines fremden Landes. Es ist nicht schwierig – nur anders. Wenn wir uns auf die Jugendlichen ernsthaft einlassen wollen, müssen wir zuerst bei uns selbst verstehen, was der Körper in uns ist. Dann können wir die Jugendlichen in ihren Emotionen und tiefen Körperwahrnehmeungen begleitend unterstützen, denn was sie für ihren Lebensweg brauchen wissen sie selber von innen her. Von uns Erwachsenen brauchen sie keinen Ratschlag sondern nur unsere Akzeptanz, unseren Schutz und unser vorgelebtes Modell, was Körper und Grenzen für ein gutes Leben bedeuten.